Feuerbach: Gott als Projektion des Menschen

Feuerbach: Gott als Projektion des Menschen
Feuerbach: Gott als Projektion des Menschen
 
Nachdem eine natürliche Erklärung der Entstehung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten durch die Naturwissenschaften in greifbare Nähe gerückt war und Darwin bereits die Entstehung der Arten und des Lebens in ihrer biologischen Evolution entschlüsselt hatte, übernahm es Ludwig Feuerbach, auch eine natürliche Erklärung für die Religion anzubieten. Bereits 1830 erklärte er in seinen »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« die religiöse Hoffnung, den Tod angesichts der Unsterblichkeit und des Jenseits nicht ausreichend ernst zu nehmen, mit der neuzeitlichen Vereinzelung des Individuums und dessen übersteigerten Egoismus. Seine anonym veröffentlichte Schrift wurde verboten und beschlagnahmt. Als Feuerbachs Verfasserschaft dennoch publik wurde, blieben ihm sein ganzes Leben hindurch eine feste Anstellung und eine universitäre Laufbahn verwehrt.
 
Sein Vater hatte das alte Strafrecht der Carolina, der peinlichen Gerichtsordnung, die, 1532 von Kaiser Karl V. erlassen, in Norddeutschland bis 1871 gültig war und das Geständnis unter der Folter vorsah, durch das moderne Verfahren des Indizienbeweises ersetzt. Indizien ergaben auch für seinen Sohn im Fall der Religion ein eindeutiges Bild: Die einfache Tatsache, dass die Grundlehren des Christentums »erfüllte Herzenswünsche« des Menschen waren, sprach für sich. Wenn das nämlich zuträfe, dann müssten die Gottesvorstellungen auch die jeweiligen Wünsche einer Kultur widerspiegeln; und dies wies Feuerbach an der griechischen Religion nach. Da die Griechen nur beschränkte Wünsche gehabt hätten, beispielsweise nach sorgenfreiem Leben, Sterben ohne zu leiden und Zeit zum philosophischen Denken, konnten ihre Götter weitgehend so bleiben wie die Menschen. Im Gegensatz hierzu wollen aber die Christen in den Augen Feuerbachs sich weit über die Götter des Olymps erheben und mit ihren fantastischen Wünschen weit über die Natur, die Welt und das Menschsein hinausreichen: So beanspruchen sie einen Himmel ohne jede Bedürfnisse, Kämpfe, Leidenschaften, Lust oder Schmerz. Sie streben nicht nach einem konkreten Genuss, sondern nach der Erfüllung aller Genüsse, nach unaussprechlicher, unbeschreiblicher Seligkeit, die letztlich mit Gott identisch ist. Gott ist die Erfüllung ihrer Wünsche. Wer keine übernatürlichen Wünsche mehr hat, hat auch keine übernatürlichen Götter mehr. »Der Mensch ist, was er isst« - mit diesem Satz erklärte Feuerbach das menschliche Dasein als wesentlich egoistisch geprägt.
 
Nicht Fantasie oder Gefühl veranlassen nach Feuerbach den Menschen zum Gottesglauben, sondern sein Trieb, glücklich zu sein: Der Mensch glaubt an ein unsterbliches, ewiges Wesen, weil er nicht sterben will, und an ein vollkommenes Wesen, weil er sich danach sehnt, vollkommen zu sein. Folglich hält Religion an der Unvollkommenheit des Menschen fest, während sie von Gott behauptet, er sei vollkommen. Gott ist demnach das, was der Mensch von sich verneint. Gott ist der ganz Andere, das Gegenüber des Menschen, und zugleich der Mensch par excellence; denn was Gott als Eigenschaften zugeschrieben wird, das sind im Kern Tugenden des Menschen. Was er nicht ist, aber sein will, das schreibt er den Göttern zu. Gott ist - so der zwingende Schluss Feuerbachs, der paradox klingen mag - die fantasierte Realisation menschlicher Wünsche, ihr Konkretwerden in der Projektion.
 
Da der Mensch aber nichts wirklich Übermenschliches denken kann, weil er die Grenzen seiner Gattung in der Erkenntnis nicht überschreiten kann, erweisen sich nach Feuerbach notwendigerweise alle religiösen Vorstellungen als Anthropomorphismen. Folgerichtig reduzierte er christliche Lehrinhalte auf anthropologische Grundaussagen: So versinnbildlichen die Trinität und der Gott der Liebe die erstrebte Einheit von Ich und Du beziehungsweise die Solidarität mit der seufzenden Kreatur; die Schöpfung der Welt durch Gott hält verschlüsselt die Abhängigkeit des Menschen von der Natur fest. Die als Folge des Abhängigkeitsgefühls verselbstständigte Gottheit wird - ähnlich wie bei Schleiermacher - zur Basis jeglicher Religion.
 
Wenn Religion prinzipielle Selbstauslegung des Menschen ist und Gott die Personifikation menschlicher Sehnsüchte, was bleibt dann dem Menschen zu tun? Zunächst muss für Feuerbach die Selbsttäuschung beseitigt werden, in der der Gläubige irrtümlich Gott als vom Menschen unabhängige Größe versteht. Dann können die Energien, die bisher auf Kult und Verehrung Gottes verwendet wurden, auf die Humanisierung des Menschen und seiner Zukunft gerichtet werden. Das Ziel Feuerbachs deckt sich also mit Kants Programm der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Feuerbach selbst beschrieb seinen philosophischen Ansatz als den Versuch, aus Theologen Anthropologen zu machen, aus Theophilen Philanthropen, also die Liebe zu Gott in die Liebe zum (Mit-)Menschen umzumünzen und die Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits und zu freien, selbstbewussten Bürgern der Erde umzuerziehen.
 
Feuerbachs 1841 erschienenes »Wesen des Christentums« fand bei seinen Zeitgenossen deswegen einen so regen Zuspruch, weil es das Phänomen Religion und gleichzeitig auch das menschlichen Elend einfach und einleuchtend zu erklären vermochte: Menschliche Ängste und Sehnsüchte werden in der Religion vom Menschen abgelöst, verselbstständigen sich und werden ins Jenseits projiziert, von wo aus sie - ins Übermenschliche gesteigert - als Götter, Teufel oder Dämonen den Menschen beherrschen. Damit ist Religion dem kindlichen Stadium der Menschheitsentwicklung zuzurechnen. Wenn aber der aufgeklärte Mensch diese Mechanismen durchschaut, wird er sich seiner eigenen Fähigkeiten, seiner eigenen Göttlichkeit bewusst und dadurch fähig, sein individuelles Leben aus eigener Kraft zu meistern. An die Stelle der Menschwerdung Gottes setzt Feuerbach also die Gottwerdung des Menschen.
 
Feuerbach entwarf für seine Analyse des Christentums die Theorien der Entfremdung, Projektion, Entmythologisierung oder Desillusionierung. Das Instrumentarium seiner Christentumskritik bildet seitdem die Grundlage, auf die sich alle moderne Religionskritik nach ihm - von Durkheim über Freud bis Bloch - stützt und an der sich jede Theologie nach Feuerbach messen lassen muss. Die Umsetzung dieser theologischen Religionskritik in die politische Praxis erfolgte durch Karl Marx. Für Marx war Feuerbach das »Purgatorium (Fegefeuer) der Gegenwart«. Statt Religion psychologisch zu erklären argumentierte Marx soziologisch und erklärte Religion durch bürgerliche Interessen, Egozentrik und Vorurteile. In Erweiterung der Feuerbachschen Theorie kann er das religiöse Elend als Ausdruck politischen Elends und Religion zugleich als »Seufzer der bedrängten Kreatur« und »Opium des Volkes« ansehen, mit dem es seine ungerechte und leidvolle Realität überhöht und so erträglich gestaltet. Marx kehrte also die Kritik Feuerbachs in die Praxis um: Eine Veränderung der sozialen Situation zum Besseren genügt, und die Religion hat ausgedient und wird von selbst absterben.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.

Universal-Lexikon. 2012.

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